Evolutionsprozesse im Biologieunterricht erlebbar machen

Unterrichten mit Hilfe von realen und digitalen Mikroorganismen

von Daniela Fiedler & Katrin Hammerschmidt

Das Projekt MicroMeetsEvo kombiniert das forschungsbasierte Lernen evolutionsbiologischer Prinzipien mit der Mikrobiologie und Ökologie. In dem Projekt werden Unterrichtsmodule entwickelt und untersucht, die den naturwissenschaftlichen Schulunterricht um grundlegende Inhalte zum Thema Evolution ergänzen sollen. Hierbei bieten gerade authentische Lerngelegenheiten wie Experimente im realen bzw. digitalen Raum einzigartige Möglichkeiten, Evolutionsprozesse in Echtzeit (d. h. innerhalb von Stunden oder Tagen bei realen bzw. innerhalb von Minuten bei digitalen Organismen) erleb- und begreifbar zu machen. Im Folgenden stellen wir das Projekt und die beiden dort entwickelten Unterrichtsmodule vor. Für beide Module suchen wir derzeit interessierte Lehrkräfte, die den Einsatz im Unterricht testen.

Schwierigkeiten beim Lehren und Lernen von Evolution

Die Menschheit muss sich immer stärker mit den Auswirkungen globaler Gefahren wie der Corona-Pandemie, dem Klimawandel oder dem Artensterben auseinandersetzen. Dafür ist ein tiefgreifendes Verständnis der Evolutionsprozesse von substanzieller Bedeutung, denn um diesen Bedrohungen begegnen zu können, müssen wir verstehen, wie sich Evolutionsprozesse – also Veränderungen von Populationen, Gemeinschaften und Ökosystemen über die Zeit aufgrund von Umweltveränderungen – auswirken.

Naturwissenschaftlicher Schulunterricht soll grundlegendes Wissen über Evolutionsprozesse und deren Auswirkungen vermitteln. Doch trotz der zentralen Rolle der Evolutionsbiologie haben Lernende aller Bildungsstufen ein oft defizitäres Wissen. Gerade die eher theoretische Betrachtung von Evolutionsprozessen basierend auf Schulbüchern und Textarbeit kann zu einem missverständlichen Zugang und folglich zu Lernhindernissen führen. Insbesondere forschungsbasierte Lerngelegenheiten bewirken oft stärkere Effekte beim Lernen naturwissenschaftlicher Konzepte als reine Textarbeit. Daher sollte schulischer Biologieunterricht den Lernenden die Möglichkeit bieten, Evolutionsprozesse selbst erforschen zu können.

Ziel des Projekts MicroMeetsEvo ist es deshalb, schulische Lerngelegenheiten zu entwickeln, die durch forschungsbasiertes Lernen Evolutionsprozesse in Echtzeit erleb- und begreifbar machen. Im Rahmen empirischer Forschungsarbeiten soll untersucht werden, ob die entwickelten Lerngelegenheiten im schulischen Kontext durchführbar sind und wie sie das Evolutionswissen beeinflussen.

Erleben einer adaptiven Radiation im Klassenraum

Die biologische Vielfalt, die wir heute auf der Erde beobachten können, ist das Ergebnis von aufeinanderfolgenden adaptiven Radiationen. Adaptive Radiation beschreibt das rasche Hervorgehen mehrerer Arten aus einer einzigen Ursprungsart und erfolgt häufig, wenn eine Art ein neues Gebiet besiedelt, in dem ökologische Nischen noch unbesetzt sind. Während die Auswirkungen von adaptiven Radiationen zwar beobachtet werden können – ein klassisches Beispiel sind die Darwinfinken – werden die zugrunde liegenden Ursachen meist nur theoretisch behandelt.

Hier stellen wir zwei Unterrichtsmodule vor, in denen eine adaptive Radiation in Populationen bestehend aus Bakterien (Pseudomonas fluorescens) bzw. digitalen Organismen (Avidians) sowohl phänotypisch als auch genomisch in Echtzeit erlebt und verfolgt werden kann.

Abbildung 1: Schematische Darstellung der Module „Bakterielle Evolution” (BakEvo) und „Digitale Evolution” (DigiEvo) als Teil des Projekts MicroMeetsEvo. Gegenübergestellt werden Experimente zur adaptiven Radiation mit Hilfe der bakteriellen Evolution von Pseudomonas fluorescens SBW25 in einer stratifizierten Umgebung (links) und der digitalen Evolution von Avidians in AvidaED (rechts). Die genetischen Veränderungen (Mutationen) der evolvierten Nischenspezialisten (hier blau bzw. orange gekennzeichnet) werden durch den Vergleich des kompletten Genoms mit dem Genom des Ursprungstyps in bioinformatischen Analysen identifiziert.

Modul „Bakterielle Evolution”

Um Evolutionsprozesse zu erforschen, bietet die Mikrobiologie einzigartige Möglichkeiten, da Angepasstheiten von Mikroorganismen wie dem harmlosen Bakterium Pseudomonas fluorescens (Gefahrenstufe 1 nach der DGUV Regel 102-001, Stand 2019), schon über kurze Generationszeiten beobachtet werden können und die genetischen Veränderungen in der Forschung gut verstanden sind. Die Nachstellung eines klassischen Experiments von Rainey und Travisano im Jahr 1998 zur experimentellen Evolution ist das Kernstück des Moduls „Bakterielle Evolution”. Der Ansatz der experimentellen Evolution transformierte die Evolutionsbiologie von einer historischen Wissenschaft, in der unsichtbare Evolutionsprozesse aus Endpunkten abgeleitet werden, zu einer Wissenschaft, in der die Evolution in Echtzeit untersucht werden kann.

Im Modul „Bakterielle Evolution” werden Populationen des harmlosen Bakteriums Pseudomonas fluorescens SBW25 unter Bedingungen kultiviert, die die Bildung eines Biofilms an der Schnittstelle zwischen Kulturmedium und Luft begünstigen. Aufgrund von Mutationen entstehen verschiedene Typen, die in dem stratifizierten Medium sichtbar unterschiedliche ökologische Nischen besiedeln und sich auf Agar-Platten in ihrer Kolonie-Morphologie voneinander und dem Ursprungstyp unterscheiden. Diese Evolution-in-Echtzeit passiert innerhalb von wenigen Tagen (idealer Zeitraum ist eine Woche) und kann daher leicht im Rahmen schulischer Unterrichtszeiten durchgeführt werden.

Um die mechanistischen Grundlagen der evolutionären Veränderungen, die den neuen Typen (Mutanten) zugrunde liegen, zu verstehen, müssen diese genetisch analysiert werden. Eine bedeutende Grundlage ist hierbei, dass die Genetik der evolvierten Nischenspezialisten von Pseudomonas fluorescens SBW25 im Detail erforscht ist und die Auswirkungen gut verstanden sind. Häufig führt nur eine Mutation zu einem komplett veränderten Phänotyp (Kolonie-Morphologie). Mithilfe einfacher bioinformatischer Analysen werden die evolvierten Genome mit dem Genom des Ursprungstyps verglichen, wodurch die Mutation identifiziert werden können, die der evolvierten Kolonie-Morphologie zugrunde liegt.

Modul „Digitale Evolution”

In neuerer Zeit wurden auch vermehrt Evolutionsexperimente mit digitalen Organismen konzipiert, die sich fortpflanzen, mutieren und deren Generationszeiten in der Größenordnung von Sekunden liegen. Digitale Organismen sind selbstreplizierende Computerprogramme, die in einer kontrollierten Umgebung leben.

Avida ist ein solches Computerprogramm, mit der Evolution in Echtzeit simuliert und untersucht werden kann. AvidaED ist eine vereinfachte Version dieser Forschungssoftware und speziell für Bildungszwecke gedacht. Lernenden wird ein digitaler Laborarbeitsplatz zur Verfügung gestellt, wobei wissenschaftliche Daten auf Forschungsniveau generiert werden können. Digitale Organismen (bezeichnet als Avidians) reproduzieren und evolvieren innerhalb der Grenzen des Computerprogramms. Jeder Avidian hat seinen eigenen genetischen Code (d. h. sein eigenes Genom), der aus einfachen Computeranweisungen besteht. Bestimmte Codefolgen ermöglichen es dem Avidian, bestimmte Fähigkeiten auszuführen, wie das Replizieren oder Metabolisieren einer Ressource.

Wenn ein Avidian evolviert und dadurch Ressourcen (besser) genutzt werden können, erhöht dies die Replikationsrate, was gleichzeitig auch eine erhöhte biologische Fitness bedeutet. Zugleich findet Selektion statt, weil die Umgebung, in der die Avidians leben, begrenzt ist (d. h. mit der Geburt eines Individuums wird ein anderes aus der Population entfernt, wodurch Individuen mit einer höheren Nachkommenzahl weniger effiziente Individuen verdrängen).

Im Modul „Digitale Evolution” wird der Prozess der adaptiven Radiation in AvidaED nachgestellt und untersucht. Dabei können Merkmale der Avidians so eingestellt werden, dass sie beispielsweise die Replikations- oder Mutationsrate von existierenden Organismen wie Pseudomonas fluorescens SBW25 widerspiegeln. Mit AvidaED können Lernende so nicht nur die Auswirkungen auf die Population der Avidians, wie die Veränderung der Populationsgröße der evolvierten Avidians im Vergleich zum Ursprungstyp, sondern auch Verknüpfungen von Genotyp und Phänotyp untersuchen. Gleichzeitig haben Lernende die besondere Möglichkeit, nicht nur Veränderungen im Genom genauer zu betrachten, sondern diese auch direkt mit den Veränderungen von Fähigkeiten (z. B. Ressourcennutzung) zu verknüpfen.

Das Projekt MicroMeetsEvo ist ein Kooperationsprojekt des IPN mit der CAU Kiel und wird für zwei Jahre durch die Joachim Herz Stiftung gefördert (Förderperiode 20222023). Ziel des Projekts ist es, schulische Lerngelegenheiten zu entwickeln, die durch forschungsbasiertes Lernen Evolutionsprozesse von Mikro- und digitalen Organismen in Echtzeit erleb- und begreifbar machen.

Erste Erkenntnisse und Ausblick

Im Sommer 2022 wurde die erste Version der Module im Rahmen zweier Masterarbeiten mit Schülerinnen und Schülern schleswig-holsteinischer Schulen getestet. Dabei zeigte sich, dass beide Module zu einem Wissenszuwachs führten und gleichzeitig zu einer Reduzierung bekannter Fehlvorstellungen beitragen konnten. Für die Zukunft ist geplant, dass die Module auch von Lehrkräften eigenständig durchgeführt werden und so Schüler und Schülerinnen vermehrt die Möglichkeit haben, authentische Evolutionsexperimente im Unterricht zu erleben.

Abbildung 2: Mittlere Anzahl verwendeter Schlüsselkonzepte (A) und Fehlvorstellungen (B) in Erklärungen zweier evolutionsbiologischer Phänomene von Schülerinnen und Schülern, die das Modul „Bakterielle Evolution” (grün) bzw. „Digitale Evolution” (rot) durchgeführt haben. * = statistisch signifikante Unterschiede








Über die Autorinnen:

Dr. Daniela Fiedler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Didaktik der Biologie am IPN. Sie beschäftigt sich in ihrer Forschung mit verschiedenen Einflussfaktoren für das Lehren und Lernen der biologischen Evolution. fiedler@leibniz-ipn.de

Dr. Katrin Hammerschmidt ist Vertretungsprofessorin und Gruppenleiterin am Institut für Allgemeine Mikrobiologie an der Christian- Albrechts-Universität zu Kiel. Hauptsächlich forscht sie an der Evolution von Vielzelligkeit. Dazu kombiniert sie Ansätze der experimentellen Evolution mit phylogenetischen Stammbaumrekonstruktionen und theoretischer Modellierung (Foto: © HIAS/ Claudia Höhne). khammerschmidt@ifam.uni-kiel.de