Informatikunterricht – Auf der Suche nach Identität
Allgemeinbildung und Förderung von Interessierten kombinieren
Andreas Mühling
Die Wünsche an ein Schulfach Informatik sind vielfältig. Sie reichen in der Diskussion von einem reinen „Computerkurs“, über die Sicherstellung einer erweiterten Allgemeinbildung im digitalen Zeitalter, bis hin zur Verringerung des Fachkräftemangels durch die Generierung von mehr Studenten und speziell Studentinnen in der Informatik. Fachdidaktisch entsteht daraus die Aufgabe, diese Interessen einzuordnen und insgesamt ein kohärentes Angebot für die Schule zu schaffen.

Im Hinblick auf die Entwicklung der Schulinformatik seit den 1970er-Jahren lässt sich rückblickend ein Trend beobachten, der beginnend von einer stark mathematisch-algorithmisch geprägten Ausrichtung, die Themen und Lernziele mehr und mehr in Richtung einer Anwendbarkeit im späteren Berufsalltag verschiebt. Diese Veränderung folgte dabei stets auch der fortschreitenden Digitalisierung der Alltagswelt, in der Rechner zunächst für aufwändige Berechnungen eingesetzt, später aber als PCs auch in Büros und zu Hause verfügbar wurden. Aus „Informatik“ wurde so nach und nach „ICT“-Unterricht, der sich von der Bezugswissenschaft deutlich entfernt hatte. Auch die Wissenschaft hatte sich natürlich seit den 1970er-Jahren rasant weiterentwickelt und sich von einem Teilgebiet der Mathematik hin zu einer Ingenieurwissenschaft bewegt, die sich deduktiver, formaler Methoden genauso wie auch empirischer und konstruktiver Verfahren bedient.
» Die Brücke, die es zu schlagen gilt, ist sehr groß. Es herrscht zunächst keine Einigkeit darüber, wie genau Schulinformatik im Jahr 2023 aussehen muss.«
Von den 1990er-Jahren an entstanden als „Gegenentwurf“ dann fachdidaktische Modelle, die die Informatik wieder stärker in das Zentrum des Schulfachs rücken. Die „Handschrift“ dieser Modelle lässt sich bis heute im Informatikunterricht der verschiedenen Bundesländer erkennen. Es geht dabei um die fundamentalen Ideen der Informatik, das Konzept der Information und die Modellierung von informationsverarbeitenden Prozessen sowie die (De-)Konstruktion von informatischen Systemen.
Auch in den sich anschließenden rund 25 Jahren hat sich sowohl die Informatik als Wissenschaft wie auch die Digitalisierung des Alltags weiterentwickelt. Die Auswertung großer Datenmengen, gestützt durch Verfahren des maschinellen Lernens, verändern die Methoden des Erkenntnisgewinns in fast allen Wissenschaftsbereichen und werfen gleichzeitig viele ethische Fragen auf. Quantencomputer werden zwar nicht die Grenzen der Automatisierung verschieben, die bisherigen Regeln der digitalen Welt aber dennoch massiv verändern, etwa im Hinblick auf die Sicherheit von Verschlüsselungsverfahren.
Informatikunterricht kann diese Themen nur noch exemplarisch bzw. reduziert aufgreifen. Zwar lässt sich ein modernes neuronales Netz nicht mit den Möglichkeiten der Schulmathematik erfassen, aber durch leistungsfähige Software kann man im Informatikunterricht zumindest damit experimentieren. Auch die Unterrichtsideen des „CS unplugged“ – Informatik ohne Computer – tragen dieser Entwicklung Rechnung.
Weiter Informationen finden Sie unter: https://www.ddi.inf.uni-kiel.de/de/schule/ki-labor
Gleichzeitig entsteht, z. B. mit der Idee des computational thinking, eine Art Rückwärtsbewegung hin zu den algorithmisch geprägten Anfängen der Schulinformatik: Das Problemlösen mit Hilfe von Automatisierung wird dabei als allgemeinbildender Kern verstanden, der über das Fach hinaus lebenslange Relevanz für Lernende hat und sich von anderen Arten des Problemlösens unterscheidet. Das wird kombiniert mit dem Anspruch, auch als Schulfach Informatik einen Teil zur Medienbildung der Lernenden (im Sinne der KMK) beizutragen. Wie funktionieren das Internet und das Smartphone? Wie entstehen automatisch generierte Vorschläge auf Webseiten?
Die Brücke, die es zu schlagen gilt, ist also sehr groß. Teilweise lassen sich die Diskrepanzen schullogisch auflösen, etwa durch einen unterschiedlichen Fokus in den Sekundarstufen I und II bzw. durch Möglichkeiten der freiwilligen Vertiefung in Ergänzung zu einem Pflichtfach. So können Allgemeinbildung und Förderung von Interessierten gut kombiniert werden. Teilweise bleiben sie aber unauflösbar bestehen – Computerkurs und Informatik haben wenig miteinander zu tun – und erzeugen, verstärkt durch die bisher nur vergleichsweise geringe Standardisierung der Curricula, eine heterogene Landschaft von „Informatik“ in der Schule – nicht zuletzt angefangen beim Namen des Fachs.

Integration der Perspektiven
Werden – auch international – die aktuell relevanten fachdidaktischen Modelle und existierenden Ausprägungen des Fachs in den Blick genommen, so herrscht zunächst keine Einigkeit darüber, wie genau Schulinformatik im Jahr 2023 aussehen muss. Trotzdem lässt sich festhalten, dass über viele der Ansätze hinweg die prozessbezogenen Kompetenzen eine besondere Aufmerksamkeit erhalten: Modellierung, (De-)Konstruktion, strukturierte Zerlegung als eine der fundamentalen Ideen, die prozessbezogenen Kompetenzen der Bildungsstandards der Gesellschaft für Informatik. Auch im US-amerikanischen „K-12 computer science framework“ existieren practices als gleichberechtigte Säule neben concepts.
Prozesse der Informationsverarbeitung bilden den Kern der Wissenschaft sowie den Kern digitaler Technologien. Die Gestaltung, formale Modellierung und Optimierung dieser Prozesse sind – neben grundlegenden Fragen nach ihren Grenzen – bis heute der wesentliche Fokus der Tätigkeit von Informatikerinnen und Informatikern, sowohl in Wissenschaft wie auch in der Wirtschaft. Die Entwicklung von Software, das Identifizieren und Beheben von Schwachstellen in Systemen – z. B. Sicherheitslücken oder zu großer Ressourcenbedarf – sind Prozesse, die eine gut vernetzte Wissensbasis ebenso wie ein kommunikatives und iterativ verbesserndes Problemlösen erfordern.
Im fachpropädeutischen Sinne ist es also naheliegend, auch in der Schulinformatik diese Tätigkeiten in den Mittelpunkt zu rücken und so eine (fachliche) Identitätsentwicklung der Lernenden zu fördern. Im Sinne der legitimate peripheral participation – als Teil der Theorie der community of practice bzw. des situated learning erleben sich die Schülerinnen und Schüler so bereits als Informatikerin oder Informatiker. In einem systematischen Literatur-Review zum Thema Identität in der Schulinformatik zeigt sich, dass dieser Ansatz international speziell zur Förderung der Diversität und zur Steigerung der Abschlussraten, aber auch zur Verbesserung von Lernerfolg diskutiert wird. Auch computational thinking beschreibt letztlich genau einen solchen Prozess im Sinne einer problemlösenden Tätigkeit, wenn auch nicht einen spezifisch fachlichen. Offen ist aber bisher ob diese überfachliche Fähigkeit emergent aus dem Informatikunterricht hervorgeht oder ob es explizit unterrichtet werden muss. Das liegt nicht zuletzt an der großen begrifflichen Unschärfe hinter diesem Konzept.
Darüber hinaus bleibt der Anspruch an eine allgemeine Medienbildung, der nicht unmittelbar in diese Ausrichtung des Faches zu passen scheint, da hierbei oft das Wissen über bestimmte Aspekte digitaler Systeme stärker im Vordergrund steht. Die Frage danach, wie sicher die Verwendung einer bestimmten Messenger-App ist, ist zunächst nichts, was dem oben beschriebenen Entwicklungsprozess folgt. Da sich die prozessbezogenen Kompetenzen im Unterricht aber letztlich (nur) anhand eines konkreten Kontextes einüben lassen, entsteht daraus aber nicht zwingend ein Widerspruch, vielmehr entstehen Anforderungen an die Kontexte bzw. Themen, die im Informatikunterricht behandelt werden müssen. So könnte im Unterricht selbst versucht werden, eine sichere Datenübertragung zu entwerfen und diese dann zur Bewertung mit existierenden Systemen zu vergleichen.
Große-Bölting, G., Gerstenberger, D., Gildehaus, L., Mühling, A., & Schulte, C. (2021). Identity in K-12 computer education research: A systematic literature review. In A. J. Ko, J. Vahrenhold, R. McCauley, & M. Hauswirth (Eds.), Proceedings of the 17th ACM Conference on International Computing Education Research. ACM. https://doi.org/10.1145/3446871.3469757
Über den Autor

Prof. Dr. Andreas Mühling ist seit dem Jahr 2016 an der Universität Kiel für die Fachdidaktik Informatik zuständig. Er leitet die vor kurzem gemeinsam mit der Universität Kiel am IPN eingerichtete Arbeitsgruppe Didaktik der Informatik. muehling@leibniz-ipn.de