Forschen für gerechtere Chancen auf Bildung von Anfang an

Mit wissenschaftlichen Erkenntnissen die frühkindliche Entwicklung bildungsbenachteiligter Kinder nachhaltig stärken

Kerstin Schütte

Mit der Bremer Initiative zur Stärkung frühkindlicher Entwicklung (BRISE) wird ein Förderansatz zur Unterstützung der frühkindlichen Entwicklung von Kindern aus Familien in herausfordernden Lebenssituationen implementiert und wissenschaftlich begleitet. Der Förderansatz besteht darin, bewährte bestehende Angebote zu einer durchgängigen Förderkette zu verknüpfen. Die Erkenntnisse aus der umfassenden Langzeitstudie werden dazu dienen können, politische Maßnahmen zur Verbesserung von Bildungsgerechtigkeit und zur Nutzung aller Bildungspotenziale zu legitimieren.

„Chantal und Constanze mit gleichen Bildungschancen!“ So könnte eine große deutsche Tageszeitung titeln, wenn sich die mit BRISE verknüpften Hoffnungen erfüllen. Hinter BRISE – der Bremer Initiative zur Stärkung frühkindlicher Entwicklung – verbirgt sich weit mehr als ein Forschungsprojekt. Eine Allianz aus Fachpraxis, Wissenschaft, Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft hat sich mit BRISE das Ziel gesetzt, die frühkindliche Entwicklung von Kindern aus bildungsbenachteiligten Familien effektiver als bislang und effizient zu unterstützen. Kinder sollen unabhängig von ihrer familiären Herkunft (und von damit in Zusammenhang stehenden Klischees und Erwartungen) mit guten Voraussetzungen ihre Schulkarrieren starten.

In dieser Allianz teilen das IPN und der von Prof. Dr. Olaf Köller, Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor des IPN, geleitete Forschungsverbund die Absicht, die Bildungsgerechtigkeit in Deutschland zu verbessern. Ob der in BRISE erprobte Förderansatz dazu beitragen kann, wird gemäß geltender wissenschaftlicher Standards durch eine Langzeitstudie untersucht. Tatsächlich würde der BRISE-Forschungsverbund der Gesellschaft und im Besonderen den Kindern aus bildungsbenachteiligten Familien einen Bärendienst erweisen, würden für den BRISE-Förderansatz weniger streng überprüfte Wirksamkeitsnachweise akzeptiert. BRISE würde auf diese Weise begünstigen, dass öffentliche Mittel für Maßnahmen eingesetzt werden, welche die Bildungschancen benachteiligter Kinder mutmaßlich nicht verbessern. Diese Mittel stünden dann nicht für möglicherweise wirksamere Maßnahmen zur Verfügung. Die Kinder würden weiterhin nicht die Unterstützung erhalten, die ihnen bestmögliche Lernanreize bietet, ihre Fähigkeiten und Kompetenzen zu entfalten.

Mit einer Förderkette lückenlos die kindliche Entwicklung unterstützen

Die Erwartung ist jedoch, dass der BRISE-Förderansatz die frühkindliche Entwicklung von Kindern aus Familien in herausfordernden Lebenssituationen wirksam unterstützt und dafür vergleichsweise wenige zusätzliche Ausgaben erfordert. Das geht so: BRISE macht sich zunutze, dass in Bremen bereits viele Angebote für Schwangere und Familien mit jungen Kindern bestehen. Statt also eine gänzlich neue Fördermaßnahme einzuführen, „verknüpft“ BRISE solche Angebote zu einer durchgängigen Förderkette, die Familien ohnehin bereits zur Verfügung stehen. Der wesentliche Unterschied zur bisherigen Praxis besteht also darin, dass Familien möglichst ohne längere Unterbrechungen Unterstützungsmaßnahmen in Anspruch nehmen. Der Forschungsstand lässt darauf schließen, dass eine solche durchgängige Unterstützung die kindliche Entwicklung wirksamer fördert, als wenn Eltern nur vereinzelt oder keines der vorhandenen Angebote in Anspruch nehmen. Ob das tatsächlich so ist, wird nun durch die umfassende Langzeitstudie des BRISE-Forschungsverbunds untersucht.

Schütte, K., Rose, H., & Köller, O. (Hrsg.) (2022). Frühkindliche Entwicklung stärken: Eine Zukunftsallianz aus Fachpraxis, Wissenschaft, Verwaltung, Politik und Zivilgesellschaft. Waxmann. https://doi.org/10.31244/9783830995678

Abbildung 1: Als BRISE im Jahr 2016 offiziell ihre Arbeit aufgenommen hat, lag der mittlere Anteil der unter 15-Jährigen mit SGB-II-Bezug (d. h. Bezug von Grundsicherung für Arbeitssuchende im Sozialgesetzbuch) in den heute an BRISE teilnehmenden Ortsteilen (ungewichtet, d. h. die unterschiedlich großen Einwohnerzahlen der Ortsteile sind nicht berücksichtigt) bei beinahe 40 Prozent. In einzelnen Ortsteilen sind es mehr als die Hälfte der dort lebenden Kinder und Jugendlichen. (Quelle: Statistisches Landesamt Bremen)

Für die BRISE-Förderkette wurden zudem aus den bestehenden Angeboten solche ausgewählt, die für sich genommen geeignet sind, Dimensionen kindlicher Entwicklung zu unterstützen, die bei BRISE im Fokus stehen. Um den Übergang in die Schule gut zu bewältigen, benötigen die Kinder einerseits die entsprechenden kognitiven Voraussetzungen – allgemeine, sprachliche, aber auch naturwissenschaftliche und mathematische Fähigkeiten. Andererseits sind sozial-emotionale Fähigkeiten von wesentlicher Bedeutung, da die Kinder im Schulalltag größere Anforderungen an ihre Fähigkeiten bewältigen müssen, momentane Bedürfnisse und das eigene Verhalten zu regulieren. Diese Fähigkeiten sollten durch Lerngelegenheiten einerseits im familiären Kontext, andererseits in Einrichtungen der Kindertagesbetreuung erworben werden.

Qualifizierungsinitiative für pädagogische Fachkräfte

BRISE richtet daher auch besonderes Augenmerk auf die Kitas. In einer Zeit, in welcher der Fachkräftemangel die Schlagzeilen bestimmt, macht BRISE sich dafür stark, auch der Professionalität pädagogischer Fachkräfte in den Einrichtungen die notwendige Aufmerksamkeit zu schenken. Welche große Bedeutung Kitas dafür haben, Kinder auf die Schule vorzubereiten, lässt sich am eindrücklichsten an jenen Kindern aufzeigen, in deren Familien nicht oder nur wenig Deutsch gesprochen wird. Was für den Spracherwerb gilt, gilt aber auch für andere relevante Dimensionen kindlicher Entwicklung: Die Kinder brauchen angemessene Lernanreize, die sie nicht – quasi automatisch – im Spiel mit anderen Kindern erhalten. In vielen alltäglichen Situationen können die pädagogischen Fachkräfte durch geeignete Impulse die kindliche Entwicklung anregen. Fachkräfte besser zu befähigen, solche Situationen zu erkennen und zu nutzen, strebt die Qualifizierungsinitiative in Bremen an, die aus BRISE heraus entwickelt wurde und sich schon heute nicht nur an die an BRISE beteiligten Kitas richtet.

Abbildung 2: In der Stadtgemeinde Bremen ist die Zahl der drei- bis sechsjährigen Kinder in Tageseinrichtungen, deren überwiegend gesprochene Sprache nicht Deutsch ist, nach Daten des Statistischen Landesamtes Bremen in den Jahren, für welche diese Daten öffentlich verfügbar sind, beinahe kontinuierlich gestiegen. Ihr Anteil an den insgesamt in dieser Altersgruppe betreuten Kindern stieg in diesem Zeitraum um beinahe 15 Prozent an; bremenweit sprechen in dieser Altersgruppe weniger als sechs von zehn Kindern überwiegend Deutsch.

Abbildung 3: Kinder aus Familien mit einem vergleichsweise geringen sozioökonomischen Status erzielen in der 4. Klasse geringere mittlere Kompetenzwerte in den vier beim Bildungstrend 2021 betrachteten Bereichen als Kinder aus Familien mit vergleichsweise hohem sozioökonomischen Status. Die Balken stellen für das Land Bremen dar, welche Kompetenzwerte im Mittel erreicht wurden, wenn der Highest International Socio-Economic Index of Occupational Status einer Familie kleiner als das erste Quartil oder größer als das dritte Quartil war (vgl. Abbildung 7.1web in Sachse, K. A., Jindra, C., Schumann, K. & Schipolowski, S. (2022). Soziale Disparitäten. In P. Stanat, S. Schipolowski, R. Schneider, K. A. Sachse, S. Weirich & S. Henschel (Hrsg.), IQB-Bildungstrend 2021. Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe (S. 151–180). Waxmann.). Die hellblau hinterlegten Bereiche markieren die Punktwerte, die dem jeweiligen Mindeststandard entsprechen.

Investitionen in Wissenschaft sind lohnend

Was nun ist die Rolle der Wissenschaft in BRISE? Die Wissenschaft hat die Aufgabe, genau hinzuschauen und Problemstellungen zu identifizieren. Das macht sie etwa dann, wenn sie mit den großen Vergleichsstudien die erhebliche Bildungsungleichheit gerade in Deutschland sichtbar macht. Die Wissenschaft hat aber auch die Aufgabe, mögliche Erklärungen für die belegten Phänomen zu untersuchen. So hilft sie zu verstehen, weshalb sich Kinder in Abhängigkeit von ihrer familiären Herkunft unterschiedlich entwickeln. Aus dem besseren Verständnis, welche Mechanismen zu Bildungsungleichheit führen, lassen sich mögliche Ansätze ableiten, wie ihrer Entstehung entgegengewirkt werden kann. Schließlich muss Wissenschaft überprüfen, ob und in welchem Maße solche Ansätze tatsächlich geeignet sind, die angestrebten Wirkungen zu erzielen. Dies tut der BRISE-Forschungsverbund, indem er eine große Zahl bildungsbenachteiligter Familien über Jahre begleitet und die Entwicklungsverläufe der Kinder und deren Bedingungen idealerweise beginnend noch in der Schwangerschaft und bis nach der Einschulung nachzeichnet. Die Investition in die Forschung lohnt, da Maßnahmen, die sinnvoll erscheinen, dies nicht notwendigerweise sind. Politisches Handeln auf wissenschaftliche Erkenntnisse zu stützen, schützt davor, wirkungslose oder gar schädliche Maßnahmen umzusetzen.

Wichtige Partner in der Allianz sind deshalb auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung, die Stadtgemeinde Bremen und die Jacobs Foundation. Ihr Engagement macht die Umsetzung der Initiative mit der wissenschaftlichen Begleitstudie erst möglich. Dabei verspricht ein Unterfangen wie BRISE keine schnellen Erfolge. Im Gegenteil gilt es, viel Langmut aufzubringen und trotz Widrigkeiten wie zum Beispiel einer Pandemie, die den Kontakt zu Familien für die Wissenschaft wie für die Praxis über lange Zeit erheblich erschwert hat, an BRISE festzuhalten, bis auf Basis der wissenschaftlichen Untersuchung seriös Aussagen über die Wirkungen der Förderkette auf die Entwicklung von bildungsbenachteiligten Kindern getroffen werden können. Im Rahmen üblicher Projektlaufzeiten wäre es unmöglich, die Erkenntnisse zu gewinnen, die BRISE hervorbringen wird. Entsprechend selten sind solch aufwändige Untersuchungen. Und entsprechend bedeutsam ist es – weit über Bremen hinaus –, dass BRISE auf dem Weg ist, die wissenschaftlichen Erkenntnisse bereitzustellen.

Eine Initiative gerade auch für schwierige Zeiten

Die mit dem BRISE-Förderansatz verfolgte Absicht ist kein Luxus, bei welchem eine Gesellschaft in schlechteren Zeiten Abstriche machen kann. Die aktuellen Krisen verschärfen vielmehr auf gesellschaftlicher Ebene die Notwendigkeit, bildungsbenachteiligten Kindern bessere Chancen zu bieten. Nicht nur für ihr eigenes Leben gewinnen sie dadurch Gestaltungsräume, sie werden auch besser in die Lage versetzt, zur Sicherung des gesellschaftlichen Wohlstands beizutragen.

Gute Nachrichten taugen weniger für Schlagzeilen als schlechte. Und vollständige Bildungsgerechtigkeit ist offensichtlich eine Utopie. Dennoch gibt es allen Anlass, im Bemühen um die Bildungschancen benachteiligter Kinder nicht nachzulassen.

Über die Autorin:

Dr. Kerstin Schütte ist Diplom-Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Erziehungswissenschaft und Pädagogische Psychologie am IPN. Seit Projektbeginn im Jahr 2016 ist sie die Verbundkoordinatorin von BRISE. schuette@leibniz-ipn.de