Lernen mit komplexen Repräsentationen in der Organischen Chemie

Von Blickbewegungen zu instruktionaler Unterstützung

von Marc Rodemer

Beim Lernen geschieht Informationsverarbeitung vor allem durch visuelle und auditive Reize, die wir sehen und hören können. Unser Blickmuster verrät dabei viel über unsere Aufmerksamkeit. Ein IPN-Projekt hat anhand des Blickverhaltens von Studentinnen und Studenten untersucht, inwiefern visuelle Hilfen im Instruktionsmaterial das Lernen unterstützen können.

Vorwiegend nehmen wir die Welt mit unseren Sinnesorganen wahr. Im gleichen Moment, in dem wir etwas sehen, denken wir darüber nach (so wie Sie jetzt gerade beim Lesen über diesen Text nachdenken). Daher kann die Analyse von Blickbewegungen ein Indikator für Informationsverarbeitungs- und somit Lernprozesse sein. Insbesondere bei visuell komplexen Lerninhalten wie zum Beispiel Reaktionsmechanismen im Fachgebiet der Organischen Chemie zeigen Lernende mit wenig Vorwissen ein undifferenziertes Blickverhalten: Sie können die visuell dargestellten Informationen (z. B. Strukturformeln) nicht mit konzeptuellem Wissen (z. B. chemische Reaktivität) in Verbindung bringen; oder anders gesagt: Sie sehen die Darstellung, können sie aber nicht zuordnen. Hier können visuelle Hilfen im Instruktionsmaterial Unterstützung bieten. Neben den Schwierigkeiten, die Chemiestudierende beim Entschlüsseln komplexer Reaktionsmechanismen haben, wurden in diesem Projekt die Wirksamkeit von Lernvideos untersucht, in denen mithilfe von visuellen Hervorhebungen eine Lenkung der Blickbewegung auf die wesentlichen Informationen erreicht werden sollte, um die Verknüpfung von auditiven Informationen (Konzeptwissen) und visuellen Informationen (Strukturformeln) zu unterstützen.

Blickverhalten offenbart den Expertisegrad

In der ersten Studie dieses Promotionsvorhabens wurden die Blickbewegungen von Bachelor-Chemiestudierenden verschiedener Semester während der Bearbeitung von so genannten Fallvergleichsaufgaben in der Organischen Chemie untersucht. Hierfür betrachteten die teilnehmenden Studierenden zwei ähnliche chemische Reaktionen am Computerbildschirm, während mithilfe eines Eye-Trackers die Blickbewegungen aufgezeichnet wurden. Währenddessen war die Aufgabe zu begründen, welche der beiden dargestellten Reaktionen schneller verläuft, d. h. chemisch reaktiver ist. Hierzu mussten Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Reaktionsmechanismen verglichen werden. Anhand weniger Unterschiede in den visuellen Repräsentationen von Strukturformeln kann auf bestimmte chemische Eigenschaften wie z. B. Polarität oder induktive Effekte zurückgeschlossen werden, welche einen Einfluss auf die Reaktivität haben. Dafür ist es jedoch notwendig, relevante und irrelevante Details der Repräsentationen zu differenzieren.

Abbildung 1: Beispielhafte Fallvergleichsaufgabe, bei der anhand der Strukturen auf die chemische Reaktivität geschlossen werden soll.

Für die Analyse der Blickbewegungen wurde die Stichprobe in Anfänger und Anfängerinnen (in diesem Fall Viertsemester-Studierende) und in Fortgeschrittene (Sechstsemester-Studierende) unterteilt.

Es zeigte sich, dass Anfänger bzw. Anfängerinnen die chemischen Strukturen

  • sehr lange betrachten (hohe Fixationsdauer) und
  • selten zwischen den verschiedenen, abge- bildeten Strukturen hin- und herwechseln.

Im Vergleich dazu sind fortgeschrittene Studierende

  • insgesamt deutlich schneller in der Bearbeitung und
  • wechseln viel häufiger zwischen Teilen der Strukturen hin und her.

Während das Blickverhalten der Anfänger bzw. Anfängerinnen eher als „fokussiert“ bezeichnet werden kann, wird das Blickverhalten der Fortgeschrittenen als eher „vergleichend“ betitelt. In Anbetracht der Aufgabenstellung (dem Fallvergleich) scheint das vergleichende Blickverhalten zielführender zu sein. Es kann vermutet werden, dass Anfängern bzw. Anfängerinnen das nötige Vorwissen fehlt, um die Strukturformeln mit chemischen Eigenschaften zu verknüpfen, und sie daher im Vergleich länger über die Bedeutung einzelner Strukturen nachdenken müssen.

Die Ergebnisse legen nahe, dass Instruktionsmaterial dahingehend sorgfältig evaluiert werden sollte, ob die visuelle Komplexität der Repräsentationen zum Vorwissen der Adressaten bzw. Adressatinnen passen. Auf dieser Grundlage wurden für die zweite und dritte Studie dieses Promotionsvorhabens Lernvideos entwickelt, die als Aufgabenformat Fallvergleiche, eine prozessorientierte Erklärung und mehrere multimediale Gestaltungsprinzipien enthalten. Das Hauptziel bestand darin, die Auswirkungen von entweder dynamischer, statischer (Lehrbuch-ähnlicher) oder fehlender Hervorhebungen im Rahmen einer Interventionsstudie zu testen.

Dabei wurde angenommen, dass eine dynamische Hervorhebung, die im jeweiligen Moment der (auditiven) Erklärung erscheint, die Aufmerksamkeit eines Lernenden auf relevante Details erhöht. Da Menschen über das nachdenken, was sie gerade sehen, soll auf diese Weise der Lernzuwachs während des Betrachtens eines Lernvideos erhöht werden.

Dynamische Hervorhebungen helfen beim Lernen

Die Effektivität der Videovarianten im Vergleich wurde mit mehreren Methoden untersucht. Hierbei wurden ein Prä- und Post-Test eingesetzt sowie nach jedem Video direkte Verständnisfragen gestellt. Außerdem wurde mittels einer zweiten Stichprobe anhand eines Eye-Trackers die Verteilung der Aufmerksamkeit während der Videobetrachtung beobachtet sowie mithilfe eines Selbstauskunftsbogens die kognitive Belastung gemessen.

Die Ergebnisse zeigen einen Lernvorteil für Videos mit dynamischen Hervorhebungen, der insbesondere bei geringen Vorkenntnissen deutlich wurde. Darüber hinaus wurden durch die dynamischen Hervorhebungen kognitive Ressourcen frei, was sich in einer geringeren kognitiven Belastung zeigt. Außerdem führten die dynamischen Hervorhebungen dazu, dass die Studierenden beim Betrachten der Videos zu einem höheren Anteil auf diejenigen Teile der Darstellung schauten, die gerade in der Erklärung angesprochen wurde. Dieser Effekt zeigte sich über nahezu den gesamten Verlauf der Videos. Zusammenfassend konnten positive Auswirkungen der dynamischen Hervorhebungen auf Aufmerksamkeit, kognitive Belastung und Lernzuwächse aufgezeigt werden.

»Dynamische Hervorhebungen in Videos haben einen Lernvorteil, der insbesondere bei geringen Vorkenntnissen deutlich wird.«

Abbildung 2: Prozentualer Anteil relevanter Fixationen im Durchschnitt über Probanden und Videos gemittelt und nach Hervorhebungsart aufgeschlüsselt. Relevante Fixation meint dabei, dass beim Betrachten der Videos auf die Teile der Darstellung geschaut wird, die gerade in der Erklärung angesprochen wird.

Rodemer, M., Eckhard, J., Graulich, N. & Bernholt, S. (2020). Decoding case comparisons in organic chemistry: Eye-tracking students’ visual behavior. Journal of Chemical Education, 97(10), 3530–3539. https://doi.org/10.1021/acs.jchemed.0c00418

Rodemer, M., Eckhard, J., Graulich, N. & Bernholt, S. (2021). Connecting explanations to representations: Benefits of highlighting techniques in tutorial videos on students’ learning in organic chemistry. International Journal of Science Education, 43(17), 27072728. https://doi.org/10.1080/09500693.2021.1985743

Rodemer, M., Lindner, M. A., Eckhard, J., Graulich, N. & Bernholt, S. (2022). Dynamic signals in instructional videos support students to navigate through complex representations. An eye-tracking study: Applied Cognitive Psychology, 36(4), 852–863. https://doi.org/10.1002/acp.3973

Fazit

Die drei vorgestellten Studien ergänzen die vorhandene Literatur, indem sie einen empirisch belegten, zielgerichtet-konzipierten Lernansatz erweitern, um die Fähigkeit der Studierenden zu fördern, komplexe, chemische Repräsentationen mit geeigneten, zugrunde liegenden Konzepten zu verbinden. Dabei hat sich Eye-Tracking in Kombination mit Fachwissenstests und Selbstauskunftsbögen als geeignete Methode herausgestellt, individuelle Voraussetzungen von Lernenden bei der Bearbeitung von Aufgaben mit visuell-komplexen Repräsentationen im Gebiet der Organischen Chemie zu identifizieren. Darüber hinaus eignet sich die Methode auch, die Effektivität der entwickelten Lernvideos zu evaluieren. Als Implikationen für die Lehre kann geschlussfolgert werden, dass Dozentinnen und Dozenten zielgerichtet Lernmaterialien gemäß des Vorwissens der Lernenden auswählen und dabei auf individuelle Unterstützungsmaßnahmen achten sollten.

Über den Autor:

Dr. Marc Rodemer war bis vor kurzem Mitarbeiter in der Abteilung Didaktik der Chemie am IPN. Er promovierte hier in einem Kooperationsprojekt mit der Justus-Liebig-Universität Gießen zu dem in diesem Artikel vorgestellten Thema. Zuvor studierte er Chemie und Biologie für das Lehramt an Gymnasien an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Derzeit ist er als Akademischer Rat an der Universität Duisburg-Essen in der Abteilung Didaktik der Chemie tätig. marc.rodemer@uni-due.de