„Es gibt kein Zurück mehr“

IPN-Direktor Prof. Dr. Olaf Köller im Gespräch mit Jacob Chammon und Prof. Dr. Ulrike Cress über KI und die Zukunft des Lehrens und Lernens
OLAF KÖLLER: Ehe wir uns mit KI, also der künstlichen Intelligenz, beschäftigen, möchte ich gern über Berührungspunkte mit digitaler Bildung im eigenen Lebenslauf sprechen.
JACOB CHAMMON: Letztens traf ich in Berlin einen ehemaligen Arbeitskollegen, mit dem ich 2007 in Dänemark zusammen Klassenlehrer war. Damals waren gerade die ersten Smartphones auf den Markt gekommen. Wir fanden es spannend herauszufinden, wie wir diese Geräte im Unterricht einsetzen können. Das war, bevor es WLAN gab und alle Schülerinnen und Schüler in Dänemark mit Endgeräten ausgestattet wurden. Es gab keine Lernplattformen und wir haben herauszufinden versucht, was wir mit digitalen Technologien in unseren Fachdidaktiken verändern können. Das habe ich dann über fast zwanzig Jahre bis heute gemacht: Herauszufinden, wie man neue Möglichkeiten in den Fachdidaktiken entwickeln und weiterführen kann.
OLAF KÖLLER: Und bist du jetzt ein bisschen enttäuscht, seitdem du in Deutschland bist, weil es technologisch hinterherhinkt?
JACOB CHAMMON: Nein. Wenn man mit Jugendlichen aus der neunten Klassenstufe spricht, erfährt man, dass sie alle in der Schule mit Büchern angefangen haben. Und jetzt können sie sich kaum noch vorstellen, ein Buch in die Hand zu nehmen. Es gibt viele Beispiele aus dem Ausland – aber natürlich auch aus Deutschland – die wir als good practice nutzen können. Aber die deutsche Skepsis und Diskussionskultur, z. B. beim Thema Datenschutz, haben auch ihr Gutes: Wir vermeiden dadurch, Fehler zu wiederholen, die andere vor uns gemacht haben.
ULRIKE CRESS: Wissensprozesse haben immer etwas mit Medien zu tun. Text ist ein Wissensmedium, ein Buch ist ein Wissensmedium, und natürlich gehören dazu auch die digitalen Medien. Sie eröffnen viele Möglichkeiten, indem das Wissen schon vorverarbeitet, repräsentiert bzw. dargestellt wird. Die Kognitionspsychologie im Bildungsbereich hat eigentlich immer schon digitale Medien im besonderen Blick gehabt. Bereits vor fünfzig Jahren war die Kognitionspsychologie führend, weil sie gewusst hat, wie Lernen gut funktioniert; nämlich, dass Übung eine ganz wichtige Komponente ist, genauso wie Feedback und Adaptivität, aber auch die Möglichkeit, gemeinsam Dinge zu konstruieren, zu kommunizieren und zu hinterfragen. Da bieten Medien natürlich hervorragende Möglichkeiten. In der Praxis ist die Digitalisierung in Deutschland damals schwer angekommen und war recht kritisch besetzt. Das erleben wir jetzt anders, z.B. mit ChatGPT. Lehrkräfte sind viel offener, auch wenn sie anfänglich skeptisch waren.
OLAF KÖLLER: ChatGPT ist wirklich breit aufgenommen worden in der Praxis. Am IPN haben wir lange Zeit noch auf vergleichsweise traditionelle Formen des mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts geschaut. Eine Fokussierung auf Chancen digitaler Medien im Unterricht, das kam erst später, vermutlich forciert durch die Covid-19-Krise. Wir haben gesehen, welche Chancen es bietet, wenn Schülerinnen und Schüler mit digitalen Einheiten arbeiten. Aus den Daten, die wir über die Lernenden erhalten, weil der Computer aufzeichnet, was sie machen, kann man auch Schlussfolgerungen ziehen, ob sie auf dem richtigen oder auf dem falschen Wege sind, was das Bearbeiten oder Lösen von Aufgaben betrifft. Jetzt beschäftigen wir uns mit den so genannten Learning Analytics. Bei ChatGPT schaut die Bildungsforschung zum Beispiel, welches Potenzial darin steckt. Nicht nur, dass Systeme Texte schreiben, sondern auch, dass Systeme geschriebene Texte von Schülerinnen und Schülern automatisch auswerten und Lehrkräften hinsichtlich der Korrektur Arbeit abnehmen können. So kann ein komplexer Aufsatz von der Maschine in wenigen Augenblicken korrigiert werden. Und: Die Maschine ärgert sich nicht, wenn der Aufsatz schlecht ist, es gibt also keine Verzerrungseffekte. Wie wird das Thema bei den Lehrkräften denn jetzt verhandelt?
»Eine der allerersten Fragen ist immer: Werden Lehrkräfte überflüssig? Aber die Pandemie hat gezeigt: Nein, wir brauchen Lehrkräfte.«
Jacob Chammon

JACOB CHAMMON: Eine der allerersten Fragen ist immer: Werden Lehrkräfte überflüssig? Aber die Pandemie hat gezeigt: Nein, wir brauchen Lehrkräfte, aber ihre Rolle verändert sich. Denken wir beispielsweise an Prüfungsformate und Leistungsbeurteilungen: Dem Schüler oder der Schülerin wird eine Frage gestellt und es muss eine Antwort schriftlich formuliert werden. Dieses Aufgabenformat funktioniert mit KI nicht mehr. Wir müssen uns ernsthaft mit den Leistungsüberprüfungen auseinandersetzen. Das ist bei den Lehrkräften angekommen. Die Veränderungsbereitschaft ist positiv und lösungsorientiert. Jetzt heißt es bei den Lehrkräften überwiegend: Wie kann ich meinen Schülerinnen und Schülern Kompetenzen vermitteln, damit sie beurteilen können, ob dieser Text, der da rauskommt, gut oder schlecht ist? Nach welchen Kriterien kann ich so einen Text beurteilen? Natürlich muss man als Schülerin oder Schüler heutzutage immer noch und auch in der Zukunft schreiben lernen. Aber ich glaube, wir brauchen zusätzlich auch andere Sprachkompetenzen, also das Bewertende, das Analysierende, das Reflektierende. Und dann komme ich zurück zu meinem Lieblingsthema: Das bedeutet andersherum auch, dass unsere Prüfungsformate verstärkt einen reflektierenden, analysierenden Charakter haben müssen statt nur den der Wissensreproduktion. Aus meiner Sicht haben Lehrkräfte verstanden, welche Chancen KI bietet.
OLAF KÖLLER: KI wird Schule verändern und sie wird Routinen aufbrechen. Wie eben gesagt: Die klassische Wissensaufgabe funktioniert nicht mehr. Dafür müsste man die Schülerinnen und Schüler wegsperren und ihnen alle digitalen Medien wegnehmen. Natürlich erzeugt es Angst sowie Sorgen, wenn bisherige Routinen überholt sind. Aber es gibt kein Zurück mehr. Gibt es eigentlich empirische Evidenz für die Offenheit?
ULRIKE CRESS: Das ist eine spannende Frage, die sehr ambivalent ist. Einerseits sind wir in Deutschland sehr kritisch. Andererseits, wenn wir zum Beispiel Studien zur Medizin anschauen, trauen Patientinnen und Patienten der KI sehr viel zu, wenn man ihnen beispielsweise die Wahl gibt, sich vom Roboter operieren zu lassen oder vom Arzt. Auch wenn man Leute fragt, wie sie es finden, dass ein journalistischer Text von der KI geschrieben ist, stört es sie gar nicht. Das heißt, die Offenheit ist sehr groß. Man traut diesen Mitteln eine höhere Expertise als der menschlichen zu. Dennoch ist es eine wichtige Bildungsaufgabe zu zeigen, was realistische Erwartungen an eine KI sind: Was kann sie und was kann sie nicht? Auch die Mitschülerinnen und -schüler wissen nicht alles. Da gibt es einen, der weiß das und die andere das. Die KI sollte genauso eine differenzierte Betrachtung erfahren von den Lernenden, als wäre sie ein Mensch.
JACOB CHAMMON: Dabei steht die Frage im Raum, wie wir KI-basierte lernförderliche Anwendungen für die Schule in die Breite tragen können.
OLAF KÖLLER: Das ist ein spannender Punkt. Aber noch einmal zu dem Beispiel aus der Medizin zurück: Wenn deutlich wird, welchen großen Mehrwert KI erzeugt und welche Entlastung sie mit sich bringt, dann ist das Potenzial da, dass sie akzeptiert wird. So ist es auch in der Schule. Die Akteure vor Ort müssen überzeugt davon sein, dass es einen bedeutenden Mehrwert hat – Mehrwert vor allem in Form von Entlastung der Lehrerinnen und Lehrer. Man braucht übergreifende Strukturen, damit Veränderungen in allen Schulen ankommen. Denn Modellversuche mit zwei oder mit fünf Schulen führen nicht zu flächendeckenden Veränderungen. Die Ständige Wissenschaftliche Kommission der KMK, in der Ulrike Cress und ich Mitglied sind, hat vorgeschlagen, Zentren digitaler Bildung einzurichten, in denen Wissenschaft, Unternehmen, Ländervertreter, Schulträger-Vertreter, Stiftungen und Schulbuchverlage zusammengebracht werden, um einen Fahrplan zuentwerfen, wie diese Veränderungen flächendeckend in die Schulen gelangen können. Die Bundesregierung hat jetzt Geld für so genannte digitale Kompetenzzentren bereitgestellt. Also, der Startschuss ist gegeben. Jetzt ist es wichtig, dass sich die Akteure zusammensetzen. Man braucht nachhaltige Strukturen. Denn ich beobachte, dass die Schulen nach der Corona-Zeit wieder zurückgefallen sind, die Whiteboards nicht mehr benutzt werden und die Tablets in der Schublade liegen bleiben. Eine gute Frage ist: Was können wir im Moment den Schulen anbieten?
»Das Ergebnis zu der Frage, welche Tools es gibt, ist ernüchternd.«
Prof. Dr. Ulrike Cress

ULRIKE CRESS: Es gab vor drei Jahren eine Untersuchung, die zusammengestellt hat, welche Tools es gibt. Das Ergebnis ist ernüchternd: Es gab etwa 100 Tools und der überwiegende Teil dieser Tools war dem Bereich Lernen und Üben zuzuordnen, in dem Sinne, dass Kinder einfach Aufgaben samt Feedback bekommen. Das gehört zum sogenannten Nachmittagsmarkt und hat mit Schule nichts zu tun. Es gibt einen kleineren Anteil von Tools, der dann wirklich im Unterricht landet im Sinne individueller Lernförderung, mit denen die Lehrkraft einen Überblick hat, wo die Klasse steht und in der Klasse einzelne Aufgaben zuteilen kann. Ein ganz geringer Anteil waren Tools, die dann eine Makroebene betreffen von Schule, z. B. Evaluation, Datensammeln, Raumplanung und Personaleinsatz. Aber das sind Dinge, in denen auch großes Potenzial liegt, bei denen es nicht nur um Lernen, sondern auch um Schulentwicklung geht. Es gibt viele Potenziale von KI, die man noch wenig im Blick hat. KI macht den Unterricht und das Lernen besser, interessanter, motivierender. Und diese große Vielfalt von KI, die müssen wir mehr im Blick haben.
OLAF KÖLLER: Aber eins steht fest: Weder die Landesinstitute noch die Wissenschaft werden diese Dinge entwickeln können. Dafür fehlen Ressourcen und das entsprechende Know-how. Kommerzielle Anbieter haben Programmierer-Teams, die Ideen für Designs haben, allerdings auch eine sehr einfache Wahrnehmung von Schule vertreten. Die Anwendungen sind häufig wenig komplex. Es geht hauptsächlich ums Üben. Wenn man sich zum Beispiel die Mathe-Tools anguckt, geht es fast immer nur um Arithmetik, also darum, Aufgaben auszurechnen. Es geht selten um komplexere Dinge.
ULRIKE CRESS: Bisher liegt quasi alles auf den Schultern der Lehrkräfte. Eine Lehrkraft, die interessiert ist, die findet gute Tools, probiert diese aus und setzt sie ein. Aber da steckt ein großer Aufwand hinter. Es muss mehr angeboten werden. Dafür sind die Länder gefragt und auch Schulbildungseinrichtungen. Es kann nicht in der individuellen Verantwortung der Lehrkraft liegen.
OLAF KÖLLER: Jetzt haben wir immer den bisherigen Markt kritisiert. Gibt es denn Beispielefür gute Anwendungen, die im Unterricht eingesetzt werden können?
JACOB CHAMMON: Zurzeit gibt es noch nicht viele Tools, die komplexe Sachverhalte rein digital abbilden können. Bei Schulprozessen, die auch soziale Prozesse sind, kann es nicht zielführend sein, dass alle Kinder vor dem Bildschirm sitzen und alles digital machen. In Dänemark existieren Materialien, mit denen die Themen dreigliedrig behandelt werden: Erstens wird KI zielgerichtet eingesetzt, um Lernwege zu individualisieren. Zweitens beinhalten sie ein physisches Buch, da es Dinge gibt, die in der sozialen Interaktion in der Klasse gemacht werden müssen, und drittens eine Lernplattform, auf der das kollaborative Lernen stattfinden kann. Es gibt also das Individuelle, mit dem Dinge trainiert und geübt werden – da wird KI eingesetzt. Es gibt das Soziale, vor Ort in der Klasse ohne Bildschirmzeit, um miteinander zu arbeiten, zu diskutieren und Dinge zu erörtern. Und es gibt eine kollaborative Möglichkeit, bei der Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit den Lehrkräften Dinge erarbeiten und Feedback erhalten. Diese Mischung ist sehr gelungen und kann als gutes Beispiel dienen.
OLAF KÖLLER: Im MINT-Unterricht bietet das Thema KI natürlich auch viele Chancen, Dinge verstehbar zu machen, die sonst abstrakt bleiben, indem man sie sichtbar macht. Eine letzte Frage: Können wir sagen, wenn wir über Digitalisierung sprechen, dass automatisch auch KI gemeint ist?
ULRIKE CRESS: KI ist nichts anderes als ein digitales Tool, das vieles kann. Für mich ist es nicht relevant, ob es KI ist oder nicht, sondern ob es Tools sind, die technologisch aktuell sind und die lernförderlich sein können. Es wird sich zeigen, ob diese auch in der Praxis anwendbar sind und dann auch eingesetzt werden. Ob da KI drin ist oder nicht, ist für mich nebensächlich.
OLAF KÖLLER: Das leuchtet mir ein. Herzlichen Dank für dieses Gespräch!
Information:
Das Gespräch ist eine gekürzte und leicht veränderte Fassung der Folge „Warum beschäftigt sich die Bildungsforschung mit künstlicher Intelligenz?“ des IPN-Podcasts „Im Dialog“, in dem es um Schule, Bildung und Wissenschaft geht. Aktuell wird das Thema KI und die Zukunft des Lehrens und Lernens behandelt. Hören Sie doch mal rein: https://www.leibniz-ipn.de/de/fuer-die-gesellschaft/podcasts-1/im-dialog
Über die Gesprächsteilnehmerinnen und -teilnehmer:
Jacob Chammon ist seit August 2023 Geschäftsführer der Deutsche Telekom Stiftung. Der ausgebildete Lehrer für die Fächer Dänisch, Deutsch als Fremdsprache, Geschichte und Musik war bis zum Jahr 2011 an Schulen in Dänemark tätig. 2012 übernahm er die Leitung der damals neu gegründeten Deutsch-Skandinavischen Gemeinschaftsschule in Berlin. 2019 wechselte er zum Forum Bildung Digitalisierung e.V., dessen geschäftsführender Vorstand er ein Jahr später wurde.
Prof. Dr. Ulrike Cress ist Direktorin des IWM, des Leibniz-Instituts für Wissensmedien, und Professorin an der Universität Tübingen im Fachbereich Psychologie. Die Kognitionspsychologin beschäftigt sich mit sozial- und kognitionspsychologischen Prozessen, die bei der gemeinsamen Konstruktion und Nutzung von Wissen relevant sind.
Prof. Dr. Olaf Köller ist Geschäftsführender Wissenschaftlicher Direktor des IPN und Direktor der Abteilung Erziehungswissenschaft und Pädagogische Psychologie am IPN. Außerdem hält er die Professur für Empirische Bildungsforschung an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel inne.